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AboSeit der Pandemie
ADHS-Diagnosen und Ritalin-Konsum steigen deutlich an

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In Kürze:
  • Ritalin-Nutzung in der Schweiz steigt seit 2021 jährlich um 10 Prozent, zeigen Zahlen von Swissmedic.
  • Abwassermessungen und Krankenkassendaten bestätigen den Anstieg behandelter Personen.
  • Fachleute vermuten Leistungsdruck und chemische Expositionen als mögliche Ursachen.
  • Auch die Lifestyle-Nutzung von Ritalin hat zugenommen.

Lange ist es vergleichsweise ruhig geblieben um Ritalin und verwandte Psychostimulanzien mit dem Wirkstoff Methylphenidat. Die Kritik ist leiser geworden, nachdem sich ab 2011 der Einsatz von Medikamenten zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) stabilisiert hat. 

Doch damit könnte es nun vorbei sein. Gemäss den Zahlen von Swissmedic, die dieser Redaktion vorliegen, steigt die Methylphenidat-Menge im Schweizer Handel seit 2021 jedes Jahr um 10 Prozent und mehr. 

Es sind Anstiegsraten, wie sie in den Nullerjahren in der Schweiz zu sehen waren. Damals schauten viele Menschen beunruhigt auf die Entwicklung und befürchteten eine leichtfertige Verschreibung von Ritalin und ähnlichen Medikamenten. Es kam zu hitzigen Diskussionen, politischen Vorstössen und Berichten. 2015 zeigte sich sogar der UNO-Kinderrechtsausschuss besorgt über den Anstieg bei den Verschreibungen von Ritalin in der Schweiz. Fachleute widersprachen damals allerdings und wiesen darauf hin, dass viele ADHS-Betroffene bis dahin unzureichend mit Medikamenten behandelt worden waren. Es handelte sich bei der Zunahme der Verschreibungen demnach um eine Aufholbewegung. 

Den aktuellen Anstieg belegen auch Daten aus Abwassermessungen, die seit 2021 Methylphenidat indirekt nachweisen. Zwar lässt sich daraus nicht ablesen, wie viele Personen mit ADHS-Medikamenten behandelt werden. Fachleute schliessen jedoch aus, dass heute höhere Dosierungen als früher zum Einsatz kommen. Das heisst, die Abwassermessungen deuten auf eine Zunahme der behandelten Personen.

Das lässt sich auch an der Statistik des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) ablesen. Diese erfasst die ADHS-Medikamente, die via Krankenkassen abgerechnet wurden. Auch dort zeigt der Trend klar nach oben. Mit Abstand am häufigsten werden Buben und junge Männer bis 18 Jahre behandelt. Deutlich erkennbar ist aber, dass der Anstieg alle betrifft: Frauen wie Männer, Erwachsene wie Kinder und Jugendliche. 

Stellt sich die Frage nach den Gründen für die Zunahme: Haben Ärztinnen und Ärzte ihre zwischenzeitliche Zurückhaltung beim Verschreiben von Psychostimulanzien wieder abgelegt? Oder ist der generell schlechtere psychische Zustand der Bevölkerung der Grund für den Anstieg? Welche Rolle spielt die Pandemie?

Wachsender Erfolgsdruck und Leistungsorientierung

Die Daten lassen viel Raum für Spekulation. Eine Aufholbewegung wie in den Nullerjahren scheint heute allerdings nicht stattzufinden. Dieser Ansicht ist auch Oskar Jenni, Co-Leiter der Entwicklungspädiatrie am Universitäts-Kinderspital Zürich. «Wir waren nach einem Anstieg gut zehn Jahre in einem stabilen Zustand, was darauf hindeutet, dass keine Unterversorgung mehr herrschte», sagt er. Der Mediziner geht ebenfalls von einem tatsächlichen Anstieg bei den ADHS-Betroffenen aus: «Schon vor der Pandemie war eine Zunahme von Entwicklungsstörungen wie Autismus und ADHS beobachtbar.» Sie sei deshalb auch keine unmittelbare Folge der Corona-Massnahmen.

Jenni bemerkt die Entwicklung auch in seinen eigenen Sprechstunden. «Obwohl ich bei ADHS-Medikamenten grundsätzlich sehr zurückhaltend bin, verschreibe ich sie seit einigen Jahren zunehmend häufiger», sagt der Kinderarzt. «Für das betroffene Kind in Not ist die Behandlung oft eine Hilfe», betont er. «Auf der gesellschaftlichen Ebene ist es jedoch sehr wohl ein Problem, wenn wir als Ärzte keine Alternativen haben und gezwungen sind, Medikamente zu verschreiben.» Der Entwicklungspädiater sieht einen klaren Zusammenhang mit dem wachsenden Erfolgsdruck und der Leistungsorientierung, die sowohl Kinder als auch Erwachsene betreffen. «Wir sehen das in der ganzen westlichen Welt», sagt Jenni. 

Susanne Walitza, Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, sieht an ihrer Klinik hingegen kaum etwas von der Zunahme: Man verzeichne seit Jahren eine hohe Inanspruchnahme für ambulante ADHS-Abklärungen und -Behandlungen. «Im Vergleich zu anderen Diagnosen bleibt die Entwicklung konstant, während andere Diagnosen wie Angst und Depression steigen.» Walitza weist auch darauf hin, dass es immer noch Nachholbedarf bei den Mädchen und den Erwachsenen mit ADHS gebe. Bei der aktuellen Entwicklung legen allerdings gemäss den Zahlen des Gesundheitsobservatoriums die Buben und jungen Männer bis 18 Jahre am stärksten zu. 

Insektizide dürften Verhaltensstörungen begünstigen

Eine ganz andere mögliche Erklärung für einen Anstieg von ADHS sind Chemikalien in unseren Lebensmitteln und im Trinkwasser. Aktuell wird diskutiert, inwieweit Rückstände von Pyrethroid-Insektiziden dabei eine Rolle spielen. Die Stoffe gehören zu den weltweit am häufigsten verwendeten Pestiziden und werden in Europa seit einigen Jahren zunehmend eingesetzt. Aufgrund von epidemiologischen Daten und Tierstudien bewertet unter anderem die Europäische Umweltagentur den kausalen Zusammenhang zwischen Pyrethroid-Exposition und einer Zunahme von Verhaltensstörungen als plausibel. 

Eine vor kurzem veröffentlichte Studie im Fachblatt «Environmental Health» schätzt aufgrund von Expositionsdaten aus Europa und der Schweiz, dass sich im Durchschnitt 18 Prozent aller ADHS-Fälle mit einer Pyrethroid-Exposition in Verbindung bringen lassen. «Das ist alarmierend und sollte unbedingt weiter untersucht werden», sagt Nicole Probst-Hensch, Epidemiologin am Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH). «Auch wenn die Schätzung mit beträchtlichen Unsicherheiten behaftet ist, deutet viel darauf hin, dass Pyrethroide die Entstehung von ADHS massgeblich beeinflussen könnten.» Es brauche weitere Forschung zu den Hauptquellen der Exposition gegenüber Pyrethroiden sowie gegenüber Mischungen verschiedener Chemikalien.

Lifestyle-Nutzung steigt ebenfalls

Psychostimulanzien werden auch ohne medizinische Begründung genommen, etwa um während Prüfungen Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit zu steigern. Gemäss einem Monitoring des Bundes gaben im Jahr 2022 bei einer Befragung 1,2 Prozent an, in den letzten 30 Tagen entsprechende Medikamente mindestens einmal eingenommen zu haben. Das sind zwar fast doppelt so viele wie 2018. Doch im Vergleich zum stark verbreiteten medizinischen Einsatz, bei dem die Medikamente meist täglich eingenommen werden, dürfte der Anstieg bei dieser Lifestyle-Nutzung nicht ins Gewicht fallen. 

Ähnliches gilt für die Verwendung von Ritalin als Partydroge. Bei Saferparty Streetwork Zürich beobachtet man im Rahmen der Beratungen und dem Drug Checking keine Anzeichen für eine Zunahme. Zwar könnten die Medikamente bei Menschen ohne ADHS anregend und antriebssteigernd wirken, schreibt die Fachstelle auf Anfrage. Die Wirkung entfalte sich nach der Einnahme jedoch nur langsam und werde subjektiv als wenig intensiv empfunden. Deshalb würden laut Saferparty Streetwork die meisten konsumierenden Partygängerinnen und -gänger andere Substanzen wie Kokain oder Amphetamin bevorzugen.