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Aggressive Pollen – Allergien auf dem Vormarsch
Aus Puls vom 20.03.2023.
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Immer häufiger Heuschnupfen Allergiker aufgepasst: Pollen fliegen länger und sind aggressiver

Schlechte Nachrichten für Heuschnupfen-Geplagte: Die Pollensaison wird nicht nur länger und intensiver, sondern die Pollen auch aggressiver. Und in der Schweiz sind immer mehr Menschen davon betroffen.

Nichts mit Frühlingszauber: Die hierzulande häufigste Allergie vermiest vielen Schweizerinnen und Schweizer die blühende Jahreszeit. Jede fünfte Person leidet an einer Pollenallergie. Das war nicht immer so, sondern kommt einer gigantischen Zunahme an Betroffenen gleich: Vor knapp 100 Jahren litten weniger als ein Prozent der Bevölkerung an einer Pollenallergie.

Wir leben heute zu hygienisch.
Autor: Sara Micaletto Dermatologin am Universitätsspital Zürich

Es gibt verschiedene Theorien, wie es zu dieser Zunahme gekommen ist. Eine bekannte Erklärung ist die sogenannte Hygiene-Theorie, erklärt Sara Micaletto, Dermatologin am Universitätsspital Zürich: «Diese besagt, dass wir in industrialisierten Ländern wie der Schweiz heute zu hygienisch, zu sauber leben.»

Vor allem in der Kindheit würden wir mit zu wenigen diversen Erregern in Kontakt kommen. «Vereinfacht bedeutet das, dass unser Immunsystem deshalb zu wenig trainiert wird und so im Verlauf des Lebens auf verschiedene Auslöser schneller allergisch reagiert.»

Eine Allergie kommt selten allein

Der immense Anstieg der Allergikerinnen und Allergiker der letzten Jahrzehnte ist insofern bedenklich, als es für die Betroffenen selten bei den klassischen Symptomen bleibt. Diese typischen Symptome wie triefende Nase, Niesattacken und tränende, geschwollene Augen treten unmittelbar nach dem Kontakt mit Pollen auf.

Deshalb gehört die Pollenallergie zu den Soforttyp-Allergien. Es handelt sich um eine unnötige Reaktion des Körpers auf die eigentlich harmlosen Pollen. Man spricht von einer Überreaktion des Immunsystems.

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Körperreaktion bei Pollenallergie
Aus Puls vom 20.03.2023.
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Doch wer an Heuschnupfen leidet, wird oft doppelt bestraft. Denn Pollenallergiker vertragen meist auch gewisse Nahrungsmittel nicht. Die Proteine der Pollen gleichen in ihrer Struktur jenen von bestimmten Nüssen, Gemüse oder Obst. Der Körper einer Person mit Heuschnupfen ist auf Pollen sensibilisiert und reagiert ebenfalls allergisch auf gewisse Nahrungsmittel – eine sogenannte Kreuzreaktion.

Kreuzallergie: Insbesondere Birkenallergikerinnen betroffen

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Legende: KEYSTONE/DPA/Wolfgang Kumm

Rund 70 Prozent der Birkenallergiker reagieren auf Kern- und Steinobst wie Äpfel, Aprikosen oder Birnen, in vielen Fällen auch auf Nüsse, Soja oder Karotten. Dabei reichen die Beschwerden von einem leichten Kribbeln im Mundbereich bis hin zum Anschwellen von Mund und Lippen. Schwere Symptome sind eher selten, jedoch könnte eine Kreuzallergie schlimmstenfalls zu einem allergischen Schock führen. Ein solcher tritt sehr plötzlich und heftig auf und kann lebensbedrohlich sein, denn es kann zum Zusammenbruch vom Herzkreislaufsystem kommen.

Damit nicht genug: Bleibt eine Pollenallergie unbehandelt, kann das bei 30 Prozent der Betroffenen zu Asthma führen. Die Entzündungsreaktion breitet sich von der Nase und dem Rachen in die Lunge aus. Man spricht von einem Etagenwechsel.

Gerade deshalb gilt es, die Pollenallergie ernst zu nehmen, wie Sara Micaletto vom Universitätsspital Zürich betont: «Beim Etagenwechsel besteht die Gefahr, dass sich Asthma-Symptome manifestieren. Das heisst, sie bleiben über die Heuschnupfensaison hinaus bestehen.» Von laufender Nase bis zu Kurzatmigkeit.

Ändert sich das Klima, ändern sich die Pollen

Nicht nur unser veränderter Lebensstil verschärfte das Problem in den vergangenen Jahrzehnten. Auch die Veränderung des Klimas trägt zur Problematik bei. Dies zeigt die Auswertung von Pollen-Daten aus der Schweiz. Regula Gehrig von Meteo Schweiz hat diese ausgewertet und sagt klar: «Der Klimawandel hat einen grossen Einfluss auf die Pollenproduktion.»

Weil es früher im Jahr wärmer wird, beginnen Pflanzen auch früher zu blühen. In zwei Studien (1, 2) untersuchten Regula Gehrig und andere Forscherinnen Messdatenreihen der Pollenkonzentrationen in der Schweiz.

Der längste verfügbare Zeitraum reicht dabei über 50 Jahre zurück, Daten aus Basel. Damit konnten die Forscherinnen aufzeigen, dass der Pollenflug heute früher beginnt.

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Die Pollensaison wird länger
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Neben der Verlängerung der Pollensaison konnte ebenfalls gezeigt werden, dass das Ausmass des Pollenfluges für fast alle Pollenarten zugenommen hat. Eine weitere Folge des Klimawandels, denn die Zunahme der CO₂-Konzentration in der Luft wirkt wie Dünger und sorgt dafür, dass Pflanzen mehr Pollen produzieren.

Dies hat mühsame Folgen für Allergikerinnen, so Regula Gehrig: «Das bedeutet nicht nur, dass die Symptome über längere Zeiträume auftreten, sondern dass Allergikerinnen und Allergiker vermutlich auch an stärkeren Symptomen leiden.»

Städtische Bevölkerung leidet stärker

Neben der Verlängerung und Intensivierung des Pollenflugs beobachteten Forscherinnen einen weiteren Umstand: Gerade in der Stadt scheinen besonders viele Menschen an Heuschnupfen zu leiden.

Eine Beobachtung, die auch im Zentrum der Forschung an der Universität Augsburg steht und von Umweltmedizinerin Claudia Traidl-Hoffmann untersucht wird. Sie beschäftigt sich insbesondere mit dem Allergiebaum Birke.

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Pricktest Stadt-Land-Pollen
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Vor rund vier Jahren wollte das Forschungsteam rund um Traidl-Hoffmann herausfinden, inwiefern Autoabgase und Klimawandel die Birkenpollen verändern. Genauer gesagt, jene Bestandteile der Birkenpolle, auf die Menschen mit Heuschnupfen allergisch reagieren: das allergene Protein Bet v1.

Das Forscherteam sammelte von zwei Gruppen von Bäumen Pollen: Einerseits von Birken, die in der Stadt oder an viel befahrenen Strassen stehen und andererseits zur Kontrolle, Pollen von Birken, die auf dem Land stehen. Aus beiden Gruppen stellten die Forscher Pollen-Extrakte her, die sie wiederum an freiwilligen Studienprobanden testeten. Dabei zeigte sich eine deutlich stärkere allergische Reaktion auf die Stadt-Pollen.

Was ist ein Pricktest?

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Mit Pricktests kann nachgewiesen werden, wer auf was allergisch reagiert. Dafür werden Allergene aus Pollen extrahiert und in Flüssigkeit aufgelöst. In kleinen Tropfen werden die Allergene verschiedener Pollen-Arten meist auf den Unterarm des Patienten aufgetragen. Mit einem minimalen Einstich einer kleinen Spitze werden die Allergene anschliessend unter die Haut gedrückt (geprickt). Ist der Patient allergisch, zeigt die Haut bereits nach wenigen Minuten eine Sofort-Reaktion. Die Haut rund um den Einstich rötet sich, juckt oder bildet eine Quaddel. Je nachdem, wie extrem die Reaktion ausfällt, desto allergischer ist der Patient auf die spezifische Pollenart. Der Pricktest ist in der Regel nicht schmerzhaft, kann allerdings in sehr seltenen Fällen einen allergischen Schock auslösen. Deshalb müssen die Patienten nach dem Test 30 Minuten vor Ort bleiben.

Das Forschungsziel lautete gemäss Claudia Traidl-Hoffmann: «Wir wollten herausfinden, ob die Birkenkätzchen durch unterschiedliche Umwelteinflüsse aggressiver werden, ob sie durch den Einfluss von einer Stadt zum Beispiel mehr Allergene produzieren; und, ob im Gegenzug jene Pollen vom Land weniger allergen sind.»

Aggressivere Pollen in der Stadt als auf dem Land

Um dies kontrolliert zu erforschen, züchteten die Augsburger Forscherinnen Birkenpollen in sogenannten Klimakammern. Hermetisch abgeriegelte Räume, in denen künstliches Klima herrscht. Licht, Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Tag und Nacht, alles wurde vollständig kontrolliert. 40 Birken wurden zu Testzwecken angepflanzt.

Rund die Hälfte setzten die Forscherinnen Schadstoffen aus, die andere Hälfte erhielt gute Luft. Im Labor der Universität untersuchten die Forscher anschliessend die geernteten Pollen. Sie konnten zeigen, dass jene Birkenpollen, welche Schadstoffen ausgesetzt waren, viel mehr der allergenen Proteine produzierten.

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Aggressive Pollen
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Der sogenannte Pricktest mit ausgewählten Probanden bestätigte, dass die allergische Sofortreaktion bei schadstoffbelasteten Pollen stärker ausfällt. Die Umweltmedizinerin Traidl-Hoffmann zog ein klares Fazit: «Wir müssen unbedingt die Schadstoffbelastung reduzieren, damit unsere Pollen nicht noch aggressiver und allergener werden.»

Forderungen an Schweizer Städte

Ähnlich die Einordnung von Regula Gehrig von Meteo Schweiz. Sie fügt zudem an: «Man muss beachten, dass die Pollenproduktion nicht allein vom Klima beeinflusst wird, sondern auch durch die menschliche Nutzung. So könnte man vor allem in Schweizer Städte besser darauf achten, in Zukunft weniger allergene Bäume zu pflanzen.»

Dass hier so viele Birken stehen, ist ein Problem.
Autor: Marloes Eeftens Epidemiologin

Rückhalt erhält diese Forderung aus epidemiologischer Forschung. Die Epidemiologin Marloes Eeftens ist am Schweizer Tropeninstitut tätig und befasst sich ebenfalls intensiv mit Pollenallergien. Auch sie sieht Handlungsbedarf bei der städtischen Begrünung. Das zeige sich exemplarisch beim Freizeitzentrum Dreirosen mitten in der Stadt Basel, wo sich viele Menschen begegnen.

Marloes Eeftens kritisiert: «Hier kommen viele Faktoren zusammen. Wir sind an einer viel befahrenen Strasse mit hohen Abgasemissionen, es hat einige Birken, eine Schule und ein Freizeitzentrum. Dass hier so viele Birken stehen, ist ein Problem. Es gibt Bäume, die wären meiner Meinung nach besser geeignet.»

Das Thema Pollen ist heute viel präsenter als noch vor 20 Jahren.
Autor: Emanuel Trueb Stadtgärtnerei Basel

Nur, die Bäume stehen schon seit rund 20 Jahren hier. Als die Stadtgärtnerei damals die Begrünung vornahm, stand das Kriterium des Allergiepotenzials der Bäume noch nicht so stark im Fokus wie heute. Emanuel Trueb von der Stadtgärtnerei Basel sagt: «Das Thema Pollen ist heute viel präsenter als noch vor 20 Jahren.» Neben ganz vielen anderen Kriterien soll es künftig stärker berücksichtigt werden.

Weit mehr als nur Niesen und Kratzen?

Dass die Städte reagieren, würde das Problem zumindest in einem Bereich adressieren. Denn Heuschnupfen sollte man nicht nur wegen der Risiken Etagenwechsel und Kreuzreaktion ernst nehmen.

Die Symptome dürften weit über die klassischen hinausgehen, so die Vermutung von Marloes Eeftens. Sie interessiert sich für ganzheitliche Gesundheitseffekte: «Ich erfahre meinen eigenen Heuschnupfen als eine ganze körperliche Reaktion – ich bin auch müde und kann mich nicht konzentrieren.»

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EPOCHAL Hypothese
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Eeftens und ihr Team gehen der Frage nach, inwiefern die Pollenallergie über die typischen Symptome hinaus geht. Gemäss aktuellem Forschungsstand besteht Grund zur Annahme, dass Heuschnupfen die Gesundheit von Herz, Lunge und Gehirn beeinträchtigen könnte.

Dazu läuft eine grossangelegte Studie mit 400 Teilnehmenden. Die Studie untersucht, ab welcher «Dosis» an Pollen welche Wirkung im Körper in diversen Gesundheitsbereichen auftritt.

«EPOCHAL-Studie»: Die gesundheitlichen Folgen von Pollenallergien

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Während die klassischen Symptome wie Niesen oder Augenjucken bekannt sind, besteht noch relativ wenig wissenschaftlich fundiertes Wissen zu den gesundheitlichen Effekten auf die Organe und das allgemeine Wohlbefinden. Die EPOCHAL Studie, kurz für «Effects of Pollen on Cardiorespiratory Health and Allergies», untersucht die Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen der täglichen Pollenflugkonzentration in der Luft und sechs Gesundheitsbereichen: Lungenfunktion und -entzündung, kardiovaskuläre Funktion (Blutdruck und Herzfrequenzvariabilität), kognitive Leistung, Schlaf, die gesundheitsbezogene Lebensqualität (HRQoL) und den Schweregrad der Symptome der allergischen Rhinitis. 400 Personen nehmen an der Studie teil. Die Gesundheitsdaten wurden bei sechs Hausbesuchen von Study Nurses und zehn Selbstauswertungen der Teilnehmerinnen erhoben. Die Daten zur Pollenflugkonzentration kommen von MeteoSchweiz.

Die Daten sind gesammelt, die Forscherinnen sind aktuell daran, diese auszuwerten. Mit der Publikation rechnen sie Mitte Jahr 2023. Dann weiss man mehr, wie weit Pollen die Gesundheit beeinträchtigen können. Und was das in Zukunft bedeutet könnte.

Puls, 20.03.2022, 21:05 Uhr

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